Zwei Tote bei Protesten gegen Erdogan in der Türkei

Wer sind die Demonstranten und was wollen sie?

Es begann mit einer Demonstration friedlicher Umweltschützer in Istanbul, inzwischen gehen in mehreren großen Städten in der Türkei die Menschen auf die Straße. Die Polizei reagiert mit großer Härte, doch die Proteste werden immer heftiger.

Wer sind die Demonstranten?

Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, ein großer Teil gehört allerdings zur jungen Gruppe der gebildeten Akademiker. Auffallend ist die große Zahl der Frauen, viele von ihnen sind unter 30.

Wie konnte sich der Protest so schnell ausweiten?

Für den Essener Türkeiexperten und Politikwissenschaftler Burak Copur haben die brutalen Polizeiaktionen mit Wasserwerfern und Tränengas verfeindete politische Gruppen zusammengebracht. Nun sei eine „Freiheitsbewegung“ im Gang, wie es sie noch nie in der Türkei gegeben habe. „Türkische Nationalisten protestieren mit Kurden Hand in Hand“, so der Experte der Universität Duisburg-Essen. Für den Politikwissenschaftler Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Kulturforschung haben die Proteste „Happening-Charakter“.

Der Zusammenschluss der Gruppen ist neu, denn bislang fehlt eine Opposition zur mit absoluter Mehrheit regierenden AKP. „Im Mitte-Rechts-Lager ist ein regelrechtes Vakuum“, so Karakas.

Wogegen wehren sich die Demonstranten?

Gegen den „autoritären, selbstherrlichen Führungsstil“ des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogans, sagt der Essener Türkeiexperte Copur. Und gegen Edogans patriarchales Frauenbild. Tatsächlich will der Regierungschef eine Abtreibung nur noch bis zur vierten oder fünften Woche zulassen – was ein generelles Verbot bedeutet, denn vorher kann eine Schwangerschaft kaum erkannt werden. Außerdem spricht sich Erdogan gegen Kaiserschnittgeburten aus – mit dem Argument, diese Form der Entbindung verhindere Großfamilien. Der geplante Bau einer Großmoschee im asiatischen Teil Istanbuls sowie die Einschränkung des Alkoholverkaufs sind für die Demonstranten ein Indiz für eine Islamisierung.

Welche Rolle spielt das starke türkische Wirtschaftswachstum?

Davon profitieren viele Menschen, denn das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht, gleichzeitig nimmt die Inflation ab. Doch der Preis für diesen Erfolg sei, so Copur, ein „neoliberaler Turbokapitalismus“, durch den umweltschädliche Großprojekte eben einfach durchgesetzt würden. Die umstrittene Bebauung des Taksim-Platzes ist dafür ein Bespiel, ebenso der geplante dritte Flughafen und die neue Brücke über den Bosporus.

Ist die Lage mit dem arabischen Frühling vergleichbar?

So autoritär sich Erdogan gibt: Er ist durch mehrere Wahlen mit immer stärkeren Mehrheiten demokratisch legitimiert. Für die Politikwissenschaftler sind die Proteste daher nicht vergleichbar mit der Bewegung in Nordafrika, die mehrere autoritär herrschende Regierungen zu Fall brachte.

Wie reagieren die türkisch-stämmigen Menschen in Deutschland?

In mehreren Städten wie Essen, Frankfurt und Berlin kam es bereits zu Solidaritätsaktionen. Der Essener Experte Copur hält es für möglich, dass die Konflikte aus der Türkei nach Deutschland exportiert werden. Sein hessischer Kollege glaubt indes, dafür gebe es zu viele verschiedene Gruppen der Türkisch-Stämmigen.

Birgitta Stauber-Klein

http://www.derwesten.de/politik/zwei-tote-bei-protesten-gegen-erdogan-in-der-tuerkei-id8025551.html